Illusion

März 2018

Ist die Welt, so wie ich sie sehe und erlebe, wirklich nur Illusion? Oder kann es sein, dass sie ist, wie sie ist und ich schaue nur durch einen von mir vorgefertigten Filter, der mir ein Bild entsprechend meiner Interpretation zeigt?

Wenn wir den spirituellen Weg gehen, dann fangen wir an, wahrzunehmen was wirklich ist. Wahrnehmung hat nichts mit der Psyche und dem Verstand zu tun. Sie findet auf einer anderen Ebene statt, im Bewusstsein, wo es uns möglich ist, die Psyche und den Verstand bewusst wahrzunehmen und zu beobachten. Das weltliche Erleben sowie der Glaube an sämtliche Phänomene findet also in der Psyche statt. Hier lernen wir, uns zu verändern, wir versuchen, die Probleme zu lösen und die Welt zu verbessern. Die meisten werden nach vielen Jahren der Bemühung und des Suchens feststellen, dass sie von ihrem Schmerz nicht geheilt sind und ihr Suchen nicht gestillt ist.
Solange wir in der Welt des Traums gefangen sind und diesen Traum für real halten, befinden wir uns in einem fortlaufenden Hamsterrad.

Der Träumer erforscht hier seinen Traum, um ihn nur zu verschönern.

Dagegen ist eine spirituelle Selbsterforschung radikal anders. Hier wendet sich der Blick von außen - der Traumwelt, nach innen - zum Selbst deiner wahren Natur. Aus diesem Grund wirkt für manche Suchende im Satsang die konsequente Abwendung von der interpretierten Welt, der Illusion, beinahe bedrohlich, weil damit der gewohnte Denkfluss unterbrochen wird und sie mit der Leere und Stille in Kontakt kommen können, in der erst Wahrnehmung möglich ist.

Der Verstand kann nur das Gehörte einordnen, was er in ähnlicher Weise schon erlebt hat. Da der Sucher ständig nach wahren faktischen Lösungen, Techniken und Konzepten sucht, an denen er sich orientieren und festhalten kann, lässt sich die Vorstellung der Illusion dagegen nicht festmachen und paßt daher nicht in das kontrollierte Verstehen.

Es ist entscheidend, aus welcher Perspektive man die Welt betrachtet, aus dem Gewahrsein oder aus dem Verstand und den wirkenden Schatten. Wenn wir glauben, dass wir die Persönlichkeit sind, die aus unzählig vergänglichen Gedanken und immer wiederkehrenden Emotionen besteht, wandeln wir in der relativen Traumwelt. Die relative Traumwelt ist dual, d. h. hier erleben wir Täter und Opfer, Licht und Schatten, Liebe und Hass. Die zwei Seiten bedingen sich gegenseitig. Wenn wir dann aus einer bestimmten Schatten-Perspektive schauen und uns beispielsweise als Glaubenskämpfer fühlen und in tiefem Hass festhängen, wollen wir ziemlich sicher einen „Anders-Denkenden“ oder „Ungläubigen“ verurteilen, verletzen und sogar töten. Die duale relative Traumwelt wird zu unserer Realität.
Schauen wir aus einer ähnlichen, mit nur winzigen Abweichungen, Schatten-Perspektive, handeln wir eher als Gut-Mensch und Weltverbesserer, der gegen Ungerechtigkeit kämpft und seinen Hass für den scheinbaren Frieden auslebt.
In beiden Beispielen schauen wir aus Schatten-Perspektiven, die je nach Konditionierung, Prägung und Glaubensrichtung interpretiert und entsprechend erlebt werden. Jede Person fühlt sich im Recht und glaubt, dass sie das Richtige tut. Eine missionarische Überzeugungsarbeit hat aber wenig Kraft, da völlig unterschiedliche Realitäten zusammenprallen, weil die Grundlagen des einander Verstehens nicht gegeben sind.

Wenn wir die Benennung „Person“ genauer untersuchen, finden wir ihre Herkunft im Lateinischen, die bedeutet: „Maske des Schauspielers“. Ein Schauspieler schlüpft in eine andere Rolle und ist sich bewusst, dass er „nur“ eine Rolle spielt. Wenn er sich dessen nicht mehr bewusst ist und sich mit seiner Rolle vollkommen identifiziert, dann wird sie in diesem Moment zu seiner Realität.

Ist aus einer spielerischen Maske im Laufe der Evolution eine ernst genommene festzementierte Rolle entstanden?

Der Mensch braucht zuerst das Wissen und die Bildung seiner Person, um sich seiner Persönlichkeit bewusst zu sein. Durch viele persönliche Erfahrungen, Reife und Sättigung der Persönlichkeit ist oft dann erst das Erkennen möglich, dass sie in Wirklichkeit eine Illusion ist. Zu wissen, dass man identifiziert ist und sich als Person fühlt, ist nicht das Problem und Hindernis, aber daran zu glauben oder sie gar zu verleugnen und zu bekämpfen, hält uns in der Traumwelt gefangen.

Der denkende Geist und die Person fühlt sich absolut bedroht, wenn sie hört, dass sie nur eine Illusion ist oder dass alles nur ein Traum ist. Würde diese Aussage zutiefst erkannt werden, würde das den Tod der eigenen Existenz bedeuten. Aber eine Illusion kann sich selbst nicht auslöschen, weil sie ja eine Illusion ist, also nicht wirklich existent. Der Verstand glaubt, er müsse die Kontrolle über die Wahrnehmungen in der Welt aufrechthalten, die er allerdings zu keinem Zeitpunkt hat.

Ist es denn überhaupt für den Verstand möglich, die Tragweite der Illusion zu verstehen?
Wäre dieses umfassende Erkennen schon das Aufwachen aus dem Traum?

Das Erkennen muss aus einer anderen Ebene als des Traums und von einer anderen Instanz als dem Verstand stattfinden und das ist aus dem Gewahrsein, dem Bewussten Sein.

Die umfassende Bedeutung der „Illusion“ wird deshalb meist erst in den tieferen Bewusstseinsebenen erkannt. Unsere innere Ahnung kann uns dabei den Weg weisen.

Wenn du anfängst, dich von allem, an das du glaubst, dich zu verabschieden,  wird es dir möglich sein, dein wahres Selbst wahrzunehmen. Aber der Ego-Verstand ist auf Suchen und Haben-wollen programmiert und sucht hier nach weiterem Wissen und Techniken. Er erschafft in seinem Traum religiöse, esoterische und weitere spirituelle Götter und Konzepte, die der eigenen Ego-Denkweise entspringen und somit natürlich auch zu seiner Ego-Struktur passen. Das erleben nicht nur Suchende, auch erwachte Menschen können weiterhin ihren eigen erschaffenen spirituellen Ego-Strukturen unterliegen und sich dessen nicht bewusst sein. Die Frage stellt sich, inwieweit man die noch vorhandenen Illusionen als solche durchschauen möchte, um sich von ihnen zu befreien oder auch nicht. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist, stellt sich die Frage gar nicht.
Ein spirituelles Ego hat weniger Interesse an Wut, Traurigkeit, Selbstzerstörung und Hass und bringt sich dadurch leicht in eine scheinheilige Rolle, die nach außen hin so liebevoll und verständnisvoll scheint und „wir haben uns alle lieb“ zum Ausdruck bringt. Das sogenannte Böse oder Negative wird weiterhin ausgeklammert und verleugnet. Wir können sehen, wie hier wieder die Ego-Verstandes-Ebene beim „wach sein und heilig werden“ mitspielen möchte. Der Verstand schult nur um, behält aber weiter die Hoheit, weil er nach wie vor unsere gesamte Aufmerksamkeit erhält.
Wirklich wahrhaftige Selbsterforschung ist jenseits dieser Denkarbeit. Sie hinterfragt den Denker in dir und löst sich dann von ihm.

Um so offener man sich mit dem Ich, hier zwar noch auf der Verstandesebene, beschäftigt, um so gewaltiger erscheinen einem oft Wut, Ablehnung und Traurigkeit, die man scheinbar von Außen durch andere erlebt. Das Außen ist aber nur ein Spiegel. Wenn die Ausrichtung auf die Wahrnehmung deines Selbst gehalten wird, kann sich nach und nach die innere Sichtweise verändern. Wenn aber die Harmonie- und Liebesbedürftigkeit den größeren Raum bekommen, empfindet man die Schatten als kaum aushaltbar.
Im bewusst werdenden Prozess müssen diese Ebenen mehr oder weniger durchgangen werden, um dann an einem erkennenden Punkt darüber liebevoll reflektierend lächeln zu können.

Oftmals müssen die Muster und Schatten sehr stark hochfahren, bis das künstlich erschaffene Konstrukt in sich zusammenfällt und der Suchende in tiefer Verzweiflung dann kollabiert und aufgibt. Hier kann eine spirituelle Begleitung den Menschen in tiefere Ebenen führen, um den Traum als Illusion zu erkennen. In diesen Ebenen kann der Verstand zwar noch stören, aber er bekommt immer weniger Wirkungskraft.

Um die Illusion als solche zu sehen, braucht es ein Erkennen, dass jeglicher Kampf nur ein Kampf gegen dich selbst ist.

Zwischen Verstehen und Erkennen liegt ein radikaler Wandel der wahrnehmenden Perspektive. In diesem Erkennen passiert - anfangs oft nur für Sekunden - ein Betrachten des Verstandes, statt wie bisher, aus dem Verstand zu schauen. Wenn der Verstand beobachtet wird, erleben wir, dass das Dramentheater der Welt mit sämtlich uns erscheinenden Phänomenen ein selbstinszenierter Traum ist.

Genau in diesem Moment wird die Illusion als solche erkannt.